Cover
Titel
Sulzer im Wandel. Innovation aus Tradition


Autor(en)
Bálint, Anna
Erschienen
Baden 2015: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
640 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Adrian Knoepfli

Sulzer gehört zu den Ikonen der Schweizer Industrie, und Sulzer war lange praktisch ein Synonym für die Arbeiterstadt Winterthur. In der Liste der grössten Schweizer Unternehmen zählte Sulzer einst zu den Top Ten. Eine neue, umfassende Geschichte des Konzerns war deshalb schon längst ein Desiderat. Massstäbe gesetzt hat Conrad Matschoss, dessen ausgezeichnete Arbeit 1910 erschien: ein Niveau, das die nachfolgenden Festschriften nicht mehr erreichten. Es ist deshalb verdienstvoll, dass sich Sulzer vor ein paar Jahren entschied, seine Geschichte neu schreiben zu lassen. Mit der Arbeit beauftragt wurde die deutsche Kulturhistorikerin Anna Bálint, die ihr Schweizer Gesellenstück mit einer Publikation über die Entstehung des noch jungen, aus Teilen von Sandoz und Hoechst hervorgegangenen Spezialitätenchemiekonzerns Clariant geleistet hat.

Bálints Buch, das eine beeindruckende Fülle von Material präsentiert, ist in sechs Teile gegliedert. Die ersten beiden widmen sich der eigentlichen Firmengeschichte, welche die Autorin in die «patronale Zeit» und die «managerielle Ära» (ab 1982) unterteilt. Es folgen ein kürzeres Kapitel über Forschung und Entwicklung, ein Teil über die Produktvielfalt, ein Kapitel über die Unternehmenskultur als «tragende Kraft» sowie eine Übersicht über die heutigen Sulzer-Divisionen. Bálint zeichnet die Entwicklung der 1834 gegründeten Giesserei zum Gemischtwarenladen im Detail nach. Sulzer wuchs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rasant, wobei die Dampfmaschinen der entscheidende Treiber waren. Im 20. Jahrhundert kamen unter anderem Dieselmotoren, Webmaschinen und die Medizinaltechnik (Sulzer-Gelenke) hinzu. Sie alle werden im Kapitel über die Produkte, das mit 230 Seiten mehr als ein Drittel des Buchs ausmacht, nochmals ausgiebig geschildert. Spannend liest sich da die Geschichte der Sulzer-Textilmaschinen (Zuchwil und Rüti). Das Buch ist also auch ein Nachschlagewerk, zumal es sowohl ein Personenregister als auch eines der Firmen, Vereine und Institutionen enthält. Die teilweise fantastischen Fotos tragen das ihrige zum Wert dieser Unternehmensgeschichte bei, und der Abschnitt über die Werkfotografie ist zwar kurz, aber interessant. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Expansion von Sulzer stark durch Übernahmen (Schweizerische Lokomotiv- und Maschinenfabrik, Escher-Wyss, Burckhardt, Maschinenfabrik Rüti und andere) vorangetrieben. Erhellend ist Bálints differenzierte Darstellung der 1970er (S. 97) und 1980er Jahre (S. 116), in denen Sulzer bereits mit Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Die 1990er Jahre liessen auch bei Sulzer die strukturellen Schwächen sichtbar werden, die man zuvor mit Zukäufen und, während der Hochkonjunktur, mit dem Heranziehen zahlreicher Fremdarbeiter – dieses Thema streift Bálint, wie auch das Engagement der Sulzer in der Politik, nur am Rande – übertüncht hatte. Eine Welle von Devestitionen liess den Konzern massiv schrumpfen.

Nebst der Auswertung von Literatur und schriftlichen Quellen führte Bálint Gespräche mit 29 ehemaligen und aktiven Involvierten – der verwendete Begriff «Sulzeraner» trifft längst nicht auf alle zu. Mit vier Ausnahmen handelt es sich um Personen, die auf Stufe Konzernleitung oder Verwaltungsrat tätig waren. Das mag dazu beigetragen haben, dass das Buch ziemlich managementlastig und dabei phasenweise recht unkritisch ist. Da hätten relativierende Stimmen von aussen gut getan. Die seitenlangen Erörterungen von Managementstrategien beziehungsweise das Rapportieren von entsprechenden Papieren sind wenig dienlich, zumal man über deren Ergebnisse im Unklaren bleibt. Ausführlich zur Darstellung kommen auch die verschiedenen Raiderattacken, wobei man sich eine Einführung und Verortung der Person nicht nur bei René Braginsky (S. 145), sondern auch bei Tito Tettamanti gewünscht hätte. Ebenso dürfte bei der Schilderung des finanzgetriebenen Klimas der 1990er Jahre, das bis heute anhält, der Name Martin Ebner zumindest vorkommen. Er hat es in Winterthur nicht bei Sulzer, aber bei den Winterthur Versicherungen – dort mit verheerenden Folgen – und Rieter versucht.

Die eine oder andere (auch begriffliche) Ungenauigkeit ist wohl darauf zurückzuführen, dass Anna Bálint mit den Schweizer Verhältnissen nicht durchwegs vertraut ist. So fehlt bei der Schilderung des Schweizer Netzwerks (S. 76) das Militär. Hauptkritikpunkt aber ist, dass Bálint zwar eine riesige Menge Material präsentiert, dieses aber, auch wegen eines unheilvollen Drangs zur Vollständigkeit, häufig schlecht strukturiert, oft übergangslos aneinanderreiht und keine wirkliche Geschichte erzählt. So gleicht das Werk einem Steinbruch, aus welchem man sich durchaus gewinnbringend bedienen kann. Nicht geschadet hätte ein expliziterer Blick über den Tellerrand, indem man die Entwicklung bei Sulzer in diejenige der Schweizer Industrie eingeordnet hätte. Sulzer war nicht der einzige Maschinenbauer, der einen Wandel zum Technologiekonzern durchmachte. Outsourcing und die Konzentration aufs Kerngeschäft lagen in den 1990er Jahren im Trend und waren nicht Sulzer-spezifisch, die Aufspaltung in eine Reihe von rechtlich selbständigen Gesellschaften war an der Tagesordnung.

Nachdem sich Sulzer nach dem grossen Ausverkauf wieder aufgefangen und mit den verbliebenen Divisionen gut positioniert hatte, durchlebte das Unternehmen zuletzt erneut schwierige Jahre, mit ständigen Wechseln auf der Führungsetage. Das weitere Schicksal des Unternehmens mit seinen gegenwärtig noch drei Unternehmensbereichen (Pumps Equipment, Rotating Equipment Services, Chemtech) hängt wesentlich vom Oligarchen Viktor Vekselberg ab, der seit 2007 bei Sulzer das Sagen hat und die Fokussierung auf das seit einiger Zeit schwächelnde Kundensegment Öl und Gas vorantreiben liess. Schade deshalb, dass er unter den Gesprächspartnern von Anna Bálint – er wird von Vladimir V. Kuznetsov vertreten – fehlt.

Zitierweise:
Adrian Knoepfli: Rezension zu: Anna Bálint, Sulzer im Wandel. Innovation aus Tradition, Baden: Hier und Jetzt, 2015. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 3, 2016, S. 462-464.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 3, 2016, S. 462-464.

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